„Stellen Sie sich vor, Sie würden morgen aufwachen und jeder Gegenstand hätte eine eigene IP-Adresse: Ihr Badspiegel, Ihre Kinderzimmertapete, Ihr Küchentisch, Ihr ICE-Sitz, Ihr Bürofenster … Was würden Ihre Kunden von Ihnen verlangen, was würde die Konkurrenz tun, und wie würden Sie reagieren?“ Ich bin immer wieder überrascht, dass viele Zuhörer meiner Zukunftsreden bei dieser Frage zusammenzucken, als hätte ich gerade eine unglaubliche Hiobsbotschaft verkündet.
Und doch reden wir nicht über kommende Jahrhunderte, sondern nur über das Jahr 2020. Schon seit vielen Jahren steuern wir auf diese Situation hin: Wenn Chip-Hersteller davon sprechen, jeden Chip mit einer Antenne auszustatten, wenn Computer kleiner und in Alltagsgegenstände eingebaut werden, dann wird jeder Gegenstand zum Internetempfänger. Die Nachfolger von iPad & Co sind iMirror, iTable und iWall. Damit wird in den kommenden Jahren die Internetlogik Schritt für Schritt alle Orte und Geräte des Alltagslebens erobern. Und die werden auf diese Weise intelligent: Bildanalyse, Bilderkennung und beobachtende Interfaces sorgen dafür, dass Alltagsgegenstände das Verhalten ihrer Benutzer beobachten, diese Realweltdaten mit virtuellen Informationen kombinieren und über 3D-Displays in allen Varianten jeweils situationsgerechte Informationen in unseren Alltag einspielen.
Wir Konsumenten werden dies benutzen oder auch nicht. Souverän! Ganz wie wir es brauchen: Wir benutzen die Technologie, wenn sie uns hilft, und wir schalten sie ab, wenn wir uns mit weniger „Intelligenz“ durch unseren Alltag treiben lassen wollen.
Keine Einheitsprodukte für Einheitskunden zu Einheitspreisen
Die wichtigste Auswirkung dieser „intelligenten“ Geräte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Tod der „Masse“! Das Phänomen der „Masse“ wird allmählich aus unserer Gesellschaft verschwinden.
Das bedeutet: Es gibt keine „lenkbare“ Masse an Käufern mehr, wenn deren Einkaufszettel durch individuelle elektronische Assistenten zusammengestellt wird. Es gibt keine „lenkbare“ Masse an Zuschauern für Werbebotschaften mehr, wenn Fernsehprogramme und Zeitungen individuell zusammengestellt werden. Und wenn nicht mehr der Einkäufer des Supermarkts unser Warenangebot zusammenstellt, sondern der elektronische Assistent in unserem Handy, dann drohen selbst emotional starke Marken an Wert zu verlieren.
Und für den Versicherungsbereich? Stellen Sie sich vor, Sie hätten auf Ihrem Handy einen intelligenten Risikoassistenten. Dieser würde unzählige Daten in Echtzeit analysieren und Ihnen jederzeit eine Risikoampel zeigen. Er spielt Ihnen in Ihre Brille jederzeit einen roten, gelben oder grünen Punkt ein, je nachdem, in welchem Risikobereich Sie sich gerade in dieser Sekunde bewegen. Wie lange würden Sie es ertragen, ständig diesen roten Punkt vor sich zu sehen? Wann würden Sie zum ersten Mal den Button auf dem Handy drücken und damit eine Zusatzversicherung exakt für die gerade bestehende Risikoart abschließen? Natürlich nur für wenige Stunden, maximal einen Tag.
Ist das eine komische Vorstellung? Ja, weil es dies noch nicht gibt. Aber exakt dies entsteht gerade in den Branchen um uns herum. Und in nicht allzu langer Zeit wird es ebenso diese Versicherungsangebote geben. Und ganz nebenbei: Plötzlich wird Versicherung damit sexy. Denn sie ist nicht mehr dieses ungeliebte notwendige Übel, sondern sie ist das Mittel, mit dem der Kunde sein eigenes Ego jederzeit vom roten in den grünen Komfortbereich bringen kann.
Menschen vertrauen Geräten mehr als anderen Menschen
Dies ist nichts Ungewöhnliches, denn Filtersysteme kennen wir in unserem Leben bereits. Auch früher haben wir uns auf Informationsfilter verlassen: auf Lehrer, Redaktionen, Makler, Trainer, Verkäufer, Reiseführer und Berater. Deren Geschäfte basieren auf der asymmetrischen Verteilung von Informationen. Das heißt, sie haben Informationen zeitiger oder in besserer Qualität und verdienen ihr Geld damit, dass sie anderen die Informationen neu sortieren und individualisiert zur Verfügung stellen.
Doch wir werden uns daran gewöhnen, dass technologische Filter „klüger“ sind als menschliche. Sie bringen uns bessere Ergebnisse! Diese Digitalisierung wird jedermann in die Lage versetzen, zu jeder Zeit auf alle beliebigen Informationen zugreifen zu können und dennoch das für ihn Wichtige gefiltert zu bekommen. Jeder Amateursportler trainiert dann mit Profimethoden, jeder Fernsehzuschauer bekommt sein individuelles Programm, und jeder Versicherungskunde weiß mehr als sein Betreuer.
Versicherungen: das Verschwinden des Standardsegments
Für uns Trendforscher ist die Versicherungsbranche derzeit eine der spannendsten Branchen, denn wir sind uns sicher, dass sie sich in den kommenden Jahren viel stärker wandeln wird als andere Branchen. Der Grund ist recht einfach: Die ehemalige Marktpyramide mit den klar definierten Economy-, Standard- und Premiumsegmenten transformiert sich mittelfristig in nur noch zwei große Marktbereiche – den Economy- und den Premiumbereich. Das Standardsegment verschwindet. Ausgerechnet jenes Segment, in dem die meisten von uns das Geschäft gemacht haben.
Die wichtigste Zukunftsentwicklung ist, dass Economy- und Premiumsegment dann nach unterschiedlichen Logiken funktionieren werden. Während das bisherige Abwägen zwischen Qualität und Preis im Economy-Segment bestehen bleibt und innerhalb dieses Segments bis zu höchsten Qualitäten und höchsten Preisen geht, treffen die Kunden im Premiumsegment ihre Kaufentscheidung nicht nach Qualität und Preis, sondern nach der Eignung des gewählten Anbieters als Identitätsmanager.
Versicherer, die ihre Position im Economy-Bereich stärken wollen, müssen ihre Prozesse und Produkte mit der Logik der Digitalisierung verbinden. Doch es reicht hier nicht aus, die bisherigen Produkte nun auch online verkaufen zu wollen. Vielmehr geht es um eine wirklich intelligente Verschmelzung von digitaler Logik und physischer Präsenz.
Versicherer, die ihre künftige Position im Premiumbereich suchen, müssen sich als Identitätsmanager ihrer Kunden präsentieren. Dies betrifft sowohl die Marken, Produkte und Themenwirte als auch die Betreuer. Es geht um Identität und die Chance für die Kunden, die eigene Identität auszudrücken, indem man von einer bestimmen Versicherung oder einem bestimmten Betreuer ein bestimmtes Produkt kauft.
Große Chancen: neue Unsicherheit, adaptive Produkte und „Privacy by Design“
Zugleich entstehen für Versicherer große Zukunftschancen: Denn unsere Zukunftsstudien zeigen auch, dass in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft neue Unsicherheitsbereiche mit erheblichem Geschäftspotenzial entstanden sind. Die Kunden empfinden neue Unsicherheiten in den Bereichen Bildung, Status, persönlicher Ruf, Daten sowie Mobilität. Diese Bereiche werden von der Versicherungsbranche bisher kaum mit Produktangeboten versehen.
Eine zusätzliche Chance entsteht durch digitale intelligente Assistenzsysteme. Sie sind individuell und haben ihren Platz im Handy und auf den Displays der Kunden. Auf Basis von Datenanalyse verstehen sie, wie ihr Besitzer „tickt“ und welche Kundenbedürfnisse ihn treiben. Darüber hinaus verstehen sie anhand von situativen Daten auch, wie sich die Kundenbedürfnisse ihres Nutzers von Moment zu Moment verändern. Die von den Geräten gegebenen Empfehlungen sind nicht nur individuell, sondern auch situativ verschieden. Beides zusammen heißt: adaptiv. In der Konsequenz werden die Kunden die Erfahrung machen, dass ihre digitalen Assistenten ihnen wesentlich passendere Angebote machen als herkömmliche Verkäufer. Und selbst der eigenen Suche werden Kunden weniger vertrauen als den Empfehlungen ihrer digitalen Assistenten. Denn deren Antworten sind schlicht besser! Das Economy-Segment des Jahres 2020 wird bestimmt durch intelligente Handys, passive Kunden und adaptive Angebote.
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist der souveräne Umgang mit sensiblen Daten. Dies bedeutet aber nicht die Ausdehnung des Datenschutzes oder das Zurückdrehen technologischer Entwicklungen. Vielmehr besteht die Möglichkeit der Versicherer, auf diese Entwicklung zu reagieren, darin, Produkte bereits bei der Konzeption mit unterschiedlichen Privacy-Levels zu planen. Dieses Prinzip von „Privacy by Design“ erfordert zwar mehr Aufwand, ist jedoch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal hochwertiger Produkte. In Zukunft wird die Datenfreigabe in Standardprodukten für den Massenmarkt omnipräsent sein. Einige andere Kunden im Premiummarkt sind dagegen bereit, die Kosten für mehr Sicherheit und Privatsphäre zu übernehmen. Produkte werden daher in vier bis fünf Privacy-Levels konzipiert. Basis-Level erfüllen zwar die gesetzlichen Vorgaben, haben jedoch in der Regel keine weiteren Einschränkungen zum Schutz der Privatsphäre.
Über den Autor
Sven Gábor Jánszky (43) ist ein innovativer deutscher Zukunftsforscher und Direktor des Trendforschungsinstituts „2b AHEAD ThinkTank“. Auf seine Einladung hin treffen sich bereits seit 15 Jahren regelmäßig 300 CEOs und Innovationschefs der deutschen Wirtschaft. Unter seiner Leitung entwerfen sie Zukunftsszenarien und Strategieempfehlungen für die kommenden zehn Jahre.