„Der Mensch ist die Summe seiner Daten.“
Im Gespräch mit Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien
Herr Professor Müller, uns als größten Gesundheitsversicherer Österreichs interessiert: Was sind die großen Trends, die die Medizin in den kommenden Jahren prägen werden?
Heute sind wir so weit, dass wir das Genom eines Menschen – es beschreibt, was diesen einen Menschen individuell ausmacht – zu ökonomisch vernünftigen Bedingungen darstellen können. Ursprünglich kostete das 3 Milliarden US-Dollar, heute ca. 500 Euro. Dahinter steckt die unglaubliche Entwicklung der Digitalisierung. Und mittlerweile nähern wir uns bereits der nächsten Phase – das neue Betrachtungsmodell, das sich in der Medizin herauskristallisiert, lautet: Der Mensch ist die Summe seiner Daten. Sie können einen Menschen also nicht mehr nur auf genetischer Ebene, sondern auch auf vielen weiteren Ebenen wie jener seiner Proteine oder seines Metabolismus detailliert charakterisieren und digital als „Avatar“ einer Person speichern. Damit ist man auch in der Lage zu prognostizieren, wie sich der Gesundheitszustand eines Menschen in Zukunft entwickeln wird.
Also bedeuten diese Entwicklungen für den Menschen ein längeres Leben?
Ja, denn es bedeutet, dass jede Erkrankung als einzigartige Situation gesehen wird. Sie haben nicht einfach Krebs, sondern einen spezifisch individuellen Tumor, der auch individuell behandelt wird. Dieses Konzept könnte man nicht nur in der Onkologie verwenden, sondern für jede Krankheit.
Werden dann Medikamente nicht extrem teuer, wenn sie für jeden Kranken speziell hergestellt werden müssen?
Das muss nicht sein. In Österreich stehen uns derzeit etwa 10.000 Arzneimittel zur Verfügung. Was wir dabei aber oft nicht genau wissen, ist, auf welches davon eine Erkrankung ansprechen wird. Wir haben also eigentlich keine gute Entscheidungsbasis, Medikamente werden eher auf empirischer Basis verabreicht. Mithilfe der neuen Technologien ist es möglich, sozusagen die Stecknadel im Heuhaufen zu suchen, um den entscheidenden, krankheitsverursachenden Schalter zu finden. Man kann dann genau analysieren, welches der Arzneimittel, die verfügbar sind, in einem konkreten Fall am besten wirkt.
„Heute sind wir so weit, dass wir das Genom eines Menschen zu ökonomisch vernünftigen Bedingungen darstellen können. Ursprünglich kostete das mehrere Milliarden Dollar, heute ca. 500 Euro.“
Was bedeutet diese Entwicklung für einen kranken Menschen?
In etwa zehn Jahren wird man voraussichtlich das Genom jedes Menschen bereits bei der Geburt analysieren. Damit ist das Modell der sogenannten Präzisionsmedizin umsetzbar. Das bedeutet, dass man nicht mehr Arzneimittel von der Stange bekommen wird, sondern maßgeschneiderte Medikamente.
Dann würde die Gesellschaft insgesamt gesünder werden?
Ja, das ist die Hoffnung. Wir betreiben heute größtenteils kurative Medizin – wir warten also, bis eine Krankheit auftritt, und behandeln sie dann. Das ist eigentlich nicht ideal. Die Idee hinter den erwähnten neuen Technologien ist es auch, gezielt Prävention zu betreiben. Also: weg von den Spitälern hin zu einer patientennahen Versorgung. Idealerweise entdeckt man eine Disposition für eine bestimmte Erkrankung schon sehr früh und kann schon im Frühstadium helfen. Der Trend geht also von der kurativen zur präventiven Medizin.
„Das Ziel ist nicht, die Lebensjahre zu maximieren, sondern möglichst viele gesunde Lebensjahre zu haben. Denn das ist ja heute unser großes Problem, besonders in Österreich. Wir werden zwar alt, aber wir werden ungesund alt.“
Wie würde sich angesichts dieser neuen Entwicklungen in der Medizin die Lebenszeit eines Menschen entwickeln?
Hier gibt es Futuristen, die sagen, ein Mensch kann 130 Jahre alt werden. Und dann gibt es Realisten, die sagen, das Ziel ist nicht, die Lebensjahre zu maximieren, sondern möglichst viele gesunde Lebensjahre zu haben. Denn das ist ja heute unser großes Problem, besonders in Österreich. Wir werden zwar alt, aber wir werden ungesund alt. Ab einem Alter von 60 Jahren haben die meisten von uns doch relevante Leiden und verbringen dann oft noch 20 Jahre in einer Leidenssituation. Ich denke, die Herausforderung liegt darin, diese Leidenszeit von unten her zu verkürzen. Und den größten Zugewinn an gesunden Lebensjahren erreicht man durch einen gesunden Lebensstil: Ernährung, Wohnen, Hygiene, Sport. Dass wir heute nicht 40, sondern 80 werden, ist eine zivilisatorische Errungenschaft.
Warum schneidet Österreich so schlecht ab?
Weil viele Österreicher regelmäßig rauchen und Alkohol trinken.
Das bedeutet also, dass sich die Österreicher anders ernähren und vegetarisch essen müssten, damit sie länger und vor allem gesünder leben könnten?
Nun, vegetarisch braucht man sich nicht unbedingt zu ernähren, aber gesünder. Dadurch könnten wir einen Fortschritt erreichen und auch Kosten im Gesundheitssystem senken.
Kann ich mir das Genom wie den persönlichen Code vorstellen?
Ja, durchaus. Sie bestehen aus etwa 25.000 Genen, und das Genom ist wie ein Buch, in dem alles steht, was Ihre Eltern Ihnen mitgegeben haben. Darüber hinaus gibt es auch andere Einflussfaktoren, etwa die Umwelt, oder Risiken, denen Sie Ihren Körper aussetzen.
„Das Genom ist wie ein Buch, in dem alles steht, was Ihre Eltern Ihnen mitgegeben haben.“
Was bedeutet das aber jetzt für die Versicherung? Werden Versicherungen künftig nur noch jene Menschen krankenversichern, die ein gesundheitstechnisch gutes Genom vorweisen können?
Darüber gibt es jedenfalls große Diskussionen. Aber dieses „Cherry Picking“ wäre gegen den Versicherungsgedanken, nach dem das Schicksal ja gerade ausgeglichen wird.
„Österreich zählt nach wie vor zu den Spitzenreitern, wenn es um die Anzahl der Spitalsaufnahmen und die Verweildauer im Vergleich zu anderen Ländern geht.“
Welche Auswirkungen werden diese Trends auf Spitäler haben?
Österreich zählt nach wie vor zu den Spitzenreitern, wenn es um die Anzahl der Spitalsaufnahmen und die Verweildauer im Vergleich zu anderen Ländern geht. Das ist aber nicht vernünftig, auch weil ein Spital keine sichere Umgebung ist, es gibt dort zum Beispiel gefährliche Keime. In den USA wurde das erste „Hospital without Patients“ gegründet. Das ist ein telemedizinisches Konzept, bei dem man mit Sensoren und Wearables über Skype versucht, Patienten gar nicht erst ins Spital kommen zu lassen, sondern zu Hause so weit zu unterstützen, dass sie sich selbst versorgen können. Bei manchen Krankheiten funktioniert das schon sehr gut, etwa bei Diabetes. Diese Form des Selbstmanagements wird zum Trend werden. Und das wird dazu führen, dass es große Spitäler, wie wir sie heute kennen, möglicherweise nicht mehr geben wird.
„Heute machen bereits rund 80 Prozent der Patienten ihre Chemotherapie ambulant. Dieser Schritt von stationärer zu ambulanter Betreuung wird immer häufiger werden.“
Sehr stark sehen wir das auch in der Onkologie: Heute machen bereits rund 80 Prozent der Patienten ihre Chemotherapie ambulant. Dieser Schritt von stationärer zu ambulanter Betreuung wird immer häufiger werden. Auch wird es nicht mehr für alle Spezialisierungen Ärzte geben müssen. Ein Beispiel ist möglicherweise die Radiologie, also die Bilderkennung. Wir kennen das vom Handy, auf dem die Bilderkennung alle Bilder Ihrer Mutter automatisch heraussucht. In Zukunft wird man ein Röntgenbild einsenden, und eine Maschine wird einen Befund erstellen. Patienten sind also nicht mehr vom subjektiven Eindruck eines Radiologen abhängig. Auch in der Pathologie ist das Prinzip ähnlich. Es geht um Mustererkennung, und das werden künftig Maschinen erledigen. Reines Wissen an sich hat heute keinen ökonomischen Wert mehr, weil es maschinell so gut verarbeitbar ist, dass man auch als sehr informierter Mensch keinen kompetitiven Vorteil mehr hat.
„Im Jahr 2045 soll es zu einem Interface zwischen Mensch und Maschine kommen. Das heißt, Sie können Informationen, die im Gehirn entstehen, direkt mit einem Computer verarbeiten.“
Wird es irgendwann so weit sein, dass Menschen Sensoren eingebaut haben und künftig einfach Bescheid bekommen, wenn sie zum Arzt gehen sollen?
Das denke ich schon, in 20 bis 30 Jahren vielleicht. Gearbeitet wird auch schon daran. Viele Dinge, die heute passieren, waren vor 30 Jahren undenkbar. Man dachte, dass es nicht möglich wäre, ein Genom in weniger als 100 Jahren zu identifizieren. Damals wurde einfach die rasante Entwicklung der Technologie unterschätzt. Im Jahr 2045 soll es zu einem Interface zwischen Mensch und Maschine kommen. Das heißt, Sie können dann Informationen, die im Gehirn entstehen, direkt mit einem Computer verarbeiten. Man könnte also Ihre im Gehirn gespeicherten Informationen auf einer Festplatte speichern, auf der dann Informationen über Ihre Gefühle, Ihre Erinnerungen erfasst wären. Die Angst, dass Ärzte verschwinden, habe ich dennoch nicht, im Gegenteil. Es gibt viele Dinge, die Maschinen noch lange nicht so gut können wie wir: Gefühle zeigen, interagieren und kooperieren, kreativ sein. Der Arzt wird in der Hightech-Umgebung der Zukunft seinen Patienten als empathischer Begleiter beistehen. Und das ist meiner Meinung nach auch erstrebenswert, weil es hilft, die Medizin weniger technisch und kalt zu machen. Der Arzt wird zum Lebensbegleiter.
„In Zukunft wird man ein Röntgenbild einsenden, und eine Maschine wird einen Befund erstellen. Patienten sind also nicht mehr vom subjektiven Eindruck eines Radiologen abhängig.“
Markus Müller
Seit 2015 ist Markus Müller Rektor der Medizinischen Universität Wien. Davor war er Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie am AKH Wien. Seine Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin und Klinische Pharmakologie absolvierte er in Österreich, den USA und Schweden.